
Gestern habe ich das Buch bei BoD hochgeladen.
Es wird am 28.7.2025 veröffentlicht.
Bis dahin ... alle paar Tage ein kleines Kapitel. Jedenfalls bis zu meinem Urlaub.
Hier kommt das 4. Kapitel.
Viel Spaß
Kerstin konnte nicht mehr schlafen, nachdem sie mit Manon telefoniert hatte. Sie war wieder aufgestanden und hatte eine Weile gedankenlos in der Küche herumgeräumt. Dann gab sie sich einen Ruck und ging auf den Dachboden, wo sich ihr Arbeitszimmer befand.
Ich muss etwas tun, dachte sie beunruhigt. Kerstin setzte sich in den einzigen Sessel im Zimmer. Wie oft hatte sie in diesem Sessel gesessen und nachgedacht. Immer, wenn sie nicht weiter kam in ihren Überlegungen, hatte sie ihn aufgesucht.
„Meine Denkzelle,“ so nannte sie ihn liebevoll. Er war ihr Refugium und ihre Inspiration gleichzeitig. Aber die erhoffte Ruhe kam nicht über sie. Sie musste sich ablenken.
Kerstin setzte ihre Brille auf und drückte auf den Power-Knopf des alten Fernsehapparates, der auf einem kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers stand. Es war 5.12 Uhr. Sie suchte sich eine Weile durch die Programme, aber die Vergangenheit kehrte in ihre Gedanken zurück, und so starrte sie auf den Bildschirm, ohne wahrzunehmen, was sich darauf abspielte.
Manon. Sie war wenige Jahre nach dem Ende der großen Pandemie mit Cosima 29 auf die Welt gekommen. Kerstin erinnerte sich gerne daran, wie sie als kleines Kind zusammen mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Leon gespielt hatte. Leon war dabei immer der ruhige Macher gewesen, wogegen Manon mit ihrem schnellen Verstand den Ton angab. Ständig bestimmte sie, wer was zu tun hatte. Auch in der Schule änderte sich das nicht. Manon war die beste Schülerin ihrer Klasse und redete dauernd, während Leon durch seine Ruhe und spürbare körperliche Präsenz beeindruckte. Er musste nicht viel sagen, um Aufmerksamkeit zu erregen, obwohl er sich immer im Hintergrund bewegte. Manon hatte viele Freunde und Freundinnen, mit denen sie sich gut verstand. Erst mit dem Eintritt in die Pubertät zeigte sich für Kerstin ihre gewisse Andersartigkeit. Obgleich Manon relativ klein und mit ihrer schlanken Figur Kerstin sehr ähnlich war, entwickelte sie eine ausgeprägte Muskulatur. Die auffälligsten Zeichen ihrer Weiblichkeit waren ein kleiner Busen, ihre schmale Taille und ihr hübsches Gesicht. Ansonsten bestand sie buchstäblich aus unsichtbaren, zähen Muskeln. Die Beziehungen zu ihren Freundinnen versandeten und eines Tages kam sie nach Hause und erzählte stolz, dass sie einen Fallschirmsprung gemacht hatte. Dies war der Anfang ihrer extremen Zeit. Gleitschirm, Base-Jump, Klettern ... die Liste der gefährlichen Sportarten, die sie ausübte, war lang. Ihre Eigenständigkeit und Sturheit waren schwer zu ertragen.
Die Ens-Gene ihres Vaters, dachte Kerstin. Sie sind schon so lange sichtbar gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal Angst um ihre Tochter bekommen hatte.
Manon hatte erklärt, dass sie das Wochenende bei einer Freundin verbringen wollte. Dummerweise hatte Kerstin die Mutter der Freundin beim Einkaufen getroffen und dabei erfahren, dass Manon gar nicht bei der Freundin aufgetaucht war. Alle Versuche, sie über ihr Handy zu erreichen scheiterten. Erst drei Tage später tauchte Manon wieder auf und Kerstin erfuhr, dass sie mit einigen Freunden in die Alpen gefahren und durch eine Felswand geklettert war.
Damals waren Brankos Ruhe und Sicherheit, die er ständig ausstrahlte Kerstins Rettung gewesen. Er hatte seiner Tochter fest vertraut.
„Sie wird alles richtig machen. Manon ist eine Ens. Obwohl sie das selbst noch nicht weiß. Mach dir keine Sorgen.“, hatte er immer gesagt.
Und dann hatte Manon eines Tages erklärt, sie wolle Geologie studieren. Kerstin war glücklich, dass die Gedanken an eine Karriere als professionelle Extremsportlerin oder Kletterin endlich im Papierkorb der weggeworfenen Luftschlösser gelandet waren. Aber jetzt war genau dieser sichere Plan für Manon zu einem Problem geworden.
Der Fernsehapparat weckte ihre Aufmerksamkeit und durchbrach ihre Gedanken. Der Bildschirm war auf einmal schwarz geworden. Wenige Sekunden später erschien die Alarmkonfiguration des bundesweiten Warnsystems. Gleichzeitig begann der Apparat durchdringend zu piepsen. Eine Schrift erschien umgeben von blinkenden roten und gelben Zeichen.
Vulkanausbruch Süditalien.
Tsunamialarm im gesamten Mittelmeerraum.
Einschränkung des Flugverkehrs.
Kerstin atmete tief ein und aus. Ihre Befürchtung war zur Realität geworden. Jetzt hieß es warten. Hoffentlich hatte Manon sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht.
Ein lautes Geräusch. Das Handy. Ihr Herz machte einen Sprung. Fieberhaft suchte sie das Gerät und fand es in der Tasche ihrer Strickjacke. Auf dem Display das Bild Manons.
„Mama ...“ Kerstins Hand verkrampfte sich um das Telefon. Gleichzeitig spürte sie, wie eine Welle der Erleichterung durch ihren Körper flutete. Ihre Tochter hatte überlebt.
„Was ist ...“, wollte sie fragen, aber Manon unterbrach sie verzweifelt schluchzend.
„Es ist furchtbar. Ein Katastrophenausbruch ... oberste Kategorie ... und der Tsunami ... Rom ... die Menschen ... sie sind alle tot. Eine riesige Welle ...“ Ein Schluchzer unterbrach Manons Redefluss und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte und fortfahren konnte. „Der Ausbruch ... sowas kommt nur alle 50 000 Jahre vor. Bestimmt ist Süditalien total verbrannt ... aber ...“
Kerstin spürte das winzige Zögern in Manons Stimme. Etwas an der Schilderung des Grauens stimmte nicht. Kerstin schien es, als sei das Schlimmste noch nicht gesagt worden.
„Geht es dir gut?“, fragte sie in die kurze Gesprächspause hinein.
„Ja ... ich bin so weit ok ...“ Wieder dieses Zögern.
„Manon!“ Am anderen Ende der Telefonverbindung brach jemand zusammen.
„Mama ... da war ... ich habe was abgekriegt. Weiß nicht, was es ist. Da war dieser gelbe Regenschauer. Eine Druckwelle, die Dreck, Staub, Wasser vor sich hertreibt. Hier war es zum Glück nur noch warmes Wasser. Aber es war gelb. Ganz gelb. Und ... ich habe es in den Mund gekriegt.“ Kerstin wurde schwindelig. Sie spürte, wie eine heftige Angst in ihren Magen schoss und ihr Denken zu blockieren drohte. Manon redete jetzt ununterbrochen weiter. „Ich habe es gleich ausgespült. Nix runtergeschluckt. Danach war das Gelbe weg. Verträgt anscheinend das kalte Wasser nicht. Ich ... ich hoffe ...“ Ihre Stimme versagte und Kerstin spürte die Panik ihrer Tochter förmlich durch das Telefon. Endlich fand sie die Kraft, etwas zu sagen.
„Meinst du, es ist etwas Giftiges?“ Kerstin war erstaunt, wie kräftig und ruhig ihre Stimme klang, angesichts ihrer eigenen Verzweiflung.
„Ich ... es ist nicht giftig ... meinst du, es kann mich trotzdem töten?“ Jetzt war es heraus. Da war sie endlich, die unausgesprochene Frage. Ein Karussell in Kerstins Kopf begann sich zu drehen. Sie musste sich setzen.
Der Blutdruck sackt ab, dachte sie. Wie immer, wenn es ernst wird. Wie sollte sie die Panik ihrer Tochter bekämpfen, wenn sie selbst panisch reagierte? Sie zwang sich dazu, langsam zu atmen und fixierte dabei das Fensterkreuz des einzigen Fensters im Zimmer.
„Mama ... kann es mich töten?“ Manons Frage drang wie durch Watte gedämpft an ihr Ohr und brachte ihr Denken zurück. Der Schwindel verschwand und sie landete in der Realität.
„Reiß dich zusammen,“ sagte sie etwas zu laut und meinte damit Manon und sich selbst in gleicher Weise. „Diese Frage müsste ich dir stellen. Du bist eine Ens, verdammt. Benutze deinen Sinn. Die Ens wissen immer, was mit ihnen passiert. Ihr könnt das spüren.“ Kerstin lauschte in ihr Handy. Manons Atemzüge wurden ruhiger.
„Nein ... ich spüre keine unmittelbare Bedrohung,“ sagte Manon endlich. „Aber was ist das gelbe Zeug?“ Kerstin fiel eine Last von den Schultern. Manon würde nicht sterben. Mühsam schluckte sie Tränen der Erleichterung herunter.
„Ich weiß es nicht. Du musst sofort zu mir kommen. Ich muss dich untersuchen. Und zwar schnell.“ Wenig später war das Gespräch zu Ende. Es gab nichts mehr zu sagen, was die Tragik des Geschehenen in irgendeiner Weise hätte mildern können, und so endete das Gespräch in Sprachlosigkeit.
Erst als die Nacht längst zu Ende gegangen war, verließ sie ihr Arbeitszimmer, ging hinunter und setzte sich vor das alte Bauernhaus in die Sonne. Branko, der im Stall die Kühe versorgt hatte, setzte sich neben sie. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie sanft an sich. Gemeinsam schwiegen sie eine Weile.
„Es werden vermutlich die letzten Sonnentage sein,“ durchbrach Kerstin das Schweigen. „Vielleicht für einige Jahre. Lass sie uns genießen.“
„Der Vulkan?“ Sie nickte. „Was ist mit Manon?“
„Sie wird bald kommen.“
„Und ...?“
„Nicht gut ... sie hat etwas abgekriegt. Geschluckt. Gelbes Zeug.“
„Ist es lebendig?“ Kerstin zuckte zusammen. Er hatte ihren geheimsten Gedanken ausgesprochen.
„Ich habe alles vorbereitet. Die Geräte funktionieren. Auch das alte Laptop. Aber ich weiß nicht, ob ich ...“
„Aber ich weiß es. Du wirst es schaffen.“
Eigentlich ein wenig zu früh für das nächste Kapitel ...
Die Nacht war sehr warm gewesen und er hatte seinen Schlafsack verlassen und sich auf ihn gelegt. Der Campingplatz bei Frosinone war voll gewesen. Deswegen waren sie weiter in die Berge gefahren und hatten auf einer Wiese neben der Straße nach Avezzano übernachtet.
Die Vögel zwitscherten und er beschloss, das Zelt zu verlassen. Seine Frau neben ihm schlief tief und fest. Ein schöner Tag empfing ihn. Auch in den Zelten, in denen sich die anderen Mitglieder seiner Reisegruppe befanden, regte sich etwas.
Gerade öffnete sich ein blaues Zelt und Jessica krabbelte heraus. Sie war etwa in Terrys Alter, Anfang vierzig und alleine unterwegs. Ihr T-Shirt war verschwitzt und darunter zeichneten sich die Brustwarzen ihrer großen, etwas hängenden Brüste ab. Terrys Blick blieb an Jessicas Brüsten hängen, was diese anscheinend bemerkte, denn sie beugte ihren Oberkörper nach hinten, hob die Arme und fuhr mit ihren Händen durch ihre langen braunen Haare.
„Ist das nicht ein phantastischer Anblick?“, meinte sie zweideutig und deutete in die Ferne, wo sich der Himmel rötete.
Terry spürte ihre Geilheit und dachte über eine passende Antwort nach. Da öffneten sich weitere Zelte und die Spannung verschwand. Jessica krabbelte zurück in ihr Zelt und kam etwas später angezogen wieder heraus. Inzwischen war auch Terrys Frau erwacht und kroch aus dem Zelt. Nach einigen Minuten stand die ganze Reisegruppe auf der kleinen Wiese, wo sie übernachtet hatten.
Terry schaute in die Gesichter der anderen. Henry hatte gerade seiner Frau Melinda geholfen, das Zelt zu verlassen. Sie waren Rentner, kamen aus Philadelphia und hatten sich dazu entschieden, eine Weltreise zu unternehmen.
„Spaß muss ein, man weiß nie, wann es zu Ende ist,“ pflegte Henry gerne zu sagen, wenn seine Frau sich über etwas beschweren wollte. Er war einer der typischen älteren Männer, die ständig versuchten, den Verlust ihrer Leistungsfähigkeit und Wichtigkeit mit grenzenloser Witzigkeit zu kaschieren. Dabei bemerkten sie meistens nicht, dass sie rasch peinlich wirkten. Terry mochte Henry. Vielleicht lag es daran, dass er sich ebenfalls manchmal machtlos fühlte und die Depression Henrys hinter der Fassade erkannte. Melinda war ganz anders als ihr Ehemann. Im Gegensatz zu Henry war sie mürrisch und sprach selten. Obwohl sie so unterschiedlich waren, strahlten sie eine unbegreifbare Harmonie aus. Jetzt standen sie nebeneinander vor dem Zelt und Henry schaute Melinda liebevoll an.
Terry wandte sich dem nächsten Pärchen zu. Brian stand breitbeinig vor seinem Zelt. Er war 33 Jahre alt und arbeitete im Management einer Autofirma in New York. Seine nach der neuesten Mode schief geschnittenen Haare waren künstlich blondiert und passten farblich zu seinem schmalen Kinnbart.
Ein Schönling, dachte Terry. Alexandra, er wusste nicht, ob die beiden verheiratet waren oder nicht, hing mit verliebtem Blick an seinem Hals und Brian blickte stolz in die Gegend. Gerade biss er in einen Apfel und fletschte dabei sein makelloses Gebiss. Terry konnte nicht entscheiden, ob Brian gefiel, dass Alexandra versuchte, ihn zu küssen oder ob es ihm schlichtweg egal war. Als einzige spürbare Emotion dieses Mannes erkannte Terry seine Selbstverliebtheit.
Vermutlich hat er sie gerade bestiegen, dachte er amüsiert. Seine Augen fingen plötzlich den herausfordernden Blick Alexandras auf. Was Selbstverliebtheit anging, stand Brians etwas einfältige Freundin ihrem Lover sicherlich nicht nach. Sie war mit 27 Jahren die jüngste Teilnehmerin der Rundreise und unbestreitbar die schönste. Ihre blonden Locken waren immer perfekt frisiert, ihre Lippen jederzeit geschminkt und ihr Teint makellos. Gerade schmiegte sie ihren schlanken, durchtrainierten Körper an Brian, während sie ihre kleinen, festen Brüste herausstreckte und Terry einen schmachtenden Blick zuwarf.
Geliftet, dumm und geil, dachte er. Was war heute Morgen nur los? Terry blickte hinüber zu Jessica, die zwar inzwischen bekleidet war aber, wie so häufig, vergessen hatte, einen BH anzuziehen. Ihre Brüste waren eindeutig nicht geliftet. Sie war auf dem Weg zu Andrew, dem großen ehemaligen Footballprofi aus New Jersey.
Der passt auch besser zu ihr, tröstete sich Terry. Mit den Tattoos auf seinen Muskeln und dem schmalen Hirn im rasierten Schädel. Er schaute an seinem Körper herunter. Für seine 48 Jahre fand er sich recht attraktiv. Schlank, groß, intelligentes Gesicht. Was konnte jemand mehr wollen? Trotzdem spürte er den kleinen Stich in seinem Ego, als er sich seines Alters und der Tatsache bewusst wurde, dass er verheiratet und mit seiner Ehefrau unterwegs war.
Er drehte sich zu Louisa um. Seine Frau schaute ihn böse mit ihrem typischen, vorwurfsvoll gespannten Lächeln an. Die Falte zwischen ihren Augen, die sie bereits gehabt hatte, als sie sich kennenlernten, war im Laufe der Jahre immer tiefer geworden. Inzwischen hatten sich auch Falten auf ihrer Oberlippe gebildet und ihre Mundwinkel hingen jedes Jahr etwas tiefer.
„Na, guckst du mal wieder nach dem Flittchen mit dem breiten Hintern,“ wollte sie von ihm wissen. „Sie zeigt heute sehr schön, was sie hat, und du springst wie immer sofort darauf an.“
Terry wandte sich wortlos ab. Er hatte keine Lust, mit ihr zu streiten. Wenn der Tag schon so begann. Eigentlich hatte er den Urlaub in Italien geplant, um zusammen mit seiner Frau ihre angeschlagene Beziehung wieder lebendiger zu machen. Allerdings war das, was an Lebendigkeit entstand, eher unter der Kategorie „Streit und Vorwurf“ zu subsumieren anstatt unter „Freude und Gemeinsamkeit“. Nur einmal, in der ersten Nacht nach der Ankunft in Mailand vor zwei Wochen, hatten sie miteinander geschlafen. Da hatte Terry gemerkt, dass es nicht gelingen würde, zurückzufinden auf ihre gemeinsame Wellenlänge, so wie er sich das gewünscht hätte. Selbst dabei machte sie ihm Vorhaltungen. Terry war klar geworden, dass seit Jahren eine Entscheidung über seine Ehe anstand, und dass er sich nicht traute, sie zu treffen.
Er ging zu der kleinen Feuerstelle und prüfte die Asche. Sie war noch warm. Schnell legte er einige Holzstücke auf die Glut und blies mehrmals kräftig in den Haufen aus verbranntem Holz und Asche. Nach kurzer Zeit flackerte ein kleines Feuerchen.
„Hast du das Beil gesehen?“, hörte er Andrew rufen. „Ich würde mal mit Jessica in den Wald gehen und ein bisschen Holz holen. Wo ist eigentlich Luigi?“ Terry schaute sich um. Das Zelt ihres Reisebegleiters und Busfahrers war leer. Vermutlich war er ins nächste Dorf gelaufen, um einen „kleinen Cappucco“ zu trinken, wie er es regelmäßig morgens tat.
Eine nette Angewohnheit, dachte Terry. Sie zeugt von Lebensfreude und einer Kultur, wie wir Amis sie nicht haben. Andrew hatte anscheinend sein Beil gefunden und war mit Jessica unterwegs in den Wald. Terry hörte ihr Lachen. Kurz vor Erreichen des Waldrandes drehte sich Jessica noch einmal um und streckte Terry die Zunge heraus.
Doch nicht verloren. Mal sehen, was da noch geht, dachte er. Er drehte sich zu seiner Frau um.
„Hast du gut geschlafen, mein Schatz?“, fragte er sie freundlich.
„Du hast geschnarcht und gestrampelt. Und wieder nach der Schlampe geguckt. Ich habs gesehen.“
„Das tut mir leid.“
„Was?“
Er wollte gerade zu ihr sagen „Alles“ da kippte die Welt.
Weiter geht's...
Ein plötzlicher Windstoß traf ihn wie ein Schlag und ein heftiger Regenschauer ergoss sich sekundenlang über die Gruppe wie eine Flutwelle. Die Menschen strauchelten und Alexandra und Luisa schrien erschrocken auf. Als Terry noch überlegte, wo in diesem Augenblick ein von Süden kommender, waagrecht fliegender Regenschauer herkommen konnte, bemerkte er, dass der Regen gelb war und das Wasser merkwürdig salzig schmeckte. Gleichzeitig wusste er aus einem ihm nicht nachvollziehbaren Grund, dass diese Erkenntnis nicht gut war.
„Was war denn das?“, hörte er Brians Stimme. Alle standen irritiert herum und blickten sich erstaunt an. Als Alexandra ihren Mund öffnete, um etwas zu sagen, sah Terry ihre gelbe Zunge. Er spuckte kräftig aus. Seine Spucke war tief gelb. Ungläubig beobachtete er, wie sie auf dem Boden landete und sich rasch entfärbte. Was war gerade passiert?
Andrew und Jessica kamen aus dem Wald gelaufen. Auch sie hatten gelbe Zungen. Aber das interessierte ihn im Augenblick nicht. Terry rannte zu einer kleinen Felsgruppe, die sich neben der Wiese befand und kletterte hinauf. Dort hatte er einen guten Überblick über die gesamte Küstenregion im Westen.
Das Schauspiel, das sich ihm bot, ließ sein Blut gefrieren. In weiter Ferne sah er eine riesige, ständig zunehmende Wolke aus Wasserdampf und Vulkanasche in den Himmel steigen.
Verdammt, dachte er. Er fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Sein Blick wanderte auf das Meer und er entdeckte den Tsunami, der sich gemächlich an der Küstenlinie entlang bewegte. Gebannt beobachtete er, wie sich die Welle auftürmte und weite Landstriche verschluckte.
Ein Glück, dass wir nicht in der Ebene geblieben sind, dachte er. Welch ein seltsamer Zufall. Er erinnerte sich kurz daran, wie genervt er von Melinda gewesen war, die darauf gedrungen hatte, immer weiter zu fahren und die Ebene zu verlassen. Als habe sie etwas geahnt. Er kletterte von den Felsen herunter und lief zu den anderen.
„Wir müssen sofort hier weg,“ rief er. „Der Vesuv oder irgendein anderer Vulkan ist ausgebrochen. Ein Tsunami rast die Küste entlang. Dieser gelbe Regen, das war bestimmt die Druckwelle der Explosion. Und da war irgendetwas drin. Spült euren Mund aus, so gut ihr könnt und dann nichts wie weg hier.“ Er schaute Louise an, die regungslos neben dem Zelt stand. Genau wie die anderen schien sie nicht zu begreifen, was er gerade gesagt hatte.
„Los,“ brüllte er. „Worauf wartet ihr denn?“ Diesmal hatte er Erfolg. Es wurde hektisch. So schnell sie konnten, suchten sie ihre Sachen zusammen und bauten die Zelte ab. Alles flog in hohem Bogen in den kleinen Reisebus. Nach wenigen Minuten war die Gruppe startbereit.
Wo war dieser verdammte Luigi? Er sollte längst zurückgekommen sein, von seinem Cappuccino. Terry guckte Andrew an. Er schien weniger aufgeregt als die anderen.
„Kannst du fahren?“, fragte er ihn. Andrew nickte wortlos und setzte sich hinter das Steuer. Dann startete er den Bus. Luigi hatte glücklicherweise die Schlüssel stecken lassen.
„Wir fahren durch die Berge Richtung Norden,“ sagte Andrew. „Keine Lust, in Richtung Rom zu kommen, was denkt ihr?“ Die anderen reagierten gar nicht oder nickten stumm. Andrew setzte den Bus in Bewegung.
Terry verspürte eine leichte Müdigkeit, obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte. Den anderen schien es ähnlich zu gehen, denn sie saßen mit hängenden Köpfen schweigend im Bus. Anscheinend versuchten sie, das Erlebte zu verarbeiten. Terrys Gedanken wanderten. So hatte er sich den Urlaub nicht vorgestellt. Jetzt mussten sie sogar vor einem Vulkanausbruch fliehen.
Ihm kam in den Sinn, was Louise aus dem Ereignis machen würde, wenn sie es ihren gemeinsamen Freunden erzählte. Er schloss seine Augen und atmete tief ein und aus, um dem Anflug von Kopfschmerzen zu begegnen.
Louise. Sie hatten sich im Studium kennengelernt und sehr schnell waren ihre beiden Kinder auf die Welt gekommen. Terry hatte niemals eine gute Beziehung zu ihnen aufgebaut. Es war Louises Schuld. Sie hatte ständig seine Autorität unterminiert und Terry fragte sich, und dies nicht zum ersten Mal, warum er sie kurz vor der Geburt ihres Sohnes geheiratet hatte. Aber die Frage war nicht ernst gemeint. Er wusste schließlich die Antwort. Louise war eine gute Partie. Und seine Mutter ...
Die Kopfschmerzen machten sich erneut bemerkbar, als er an seine Mutter dachte. Louise war die erste Frau, die vor den Augen seiner Mutter Gnade gefunden hatte. Bevor sie in sein Leben getreten war, hatte seine Mutter regelmäßig jede Freundin vergrault.
Vermutlich war ich einfach froh, dass ich endlich Ruhe hatte, dachte er resigniert. Louise bot ihm damals die Möglichkeit, aus Bangor nach New York zu ziehen und sein Elternhaus endgültig zu verlassen. Die Stadt der Demütigungen.
Terry versuchte, die unangenehmen Gedanken zu kontrollieren, aber es gelang ihm nicht. So war es immer, wenn er einmal damit angefangen hatte, über seine Vergangenheit nachzudenken. Jetzt musste er durch. Seine Augen begannen zu brennen und die Kopfschmerzen nahmen zu. Einen Augenblick dachte er daran, Louise nach einer Tablette zu fragen. Aber Louise schlief und eine schlafende Louise war ihm lieber als eine wache.
Seine Schulzeit kam ihm in Erinnerung. High School in Bangor. Er hatte gelitten. Angst vor den anderen Schülern war die prägende Erfahrung seiner Kinder- und Jugendzeit gewesen. Gehänselt hatten sie ihn, weil er im Sportunterricht aufgrund seiner Behinderung nicht schnell genug rennen konnte. Es war nur eine geringfügige Deformität seines linken Fußes aber der orthopädische Schuh, den er auf Drängen seiner Mutter tragen musste, hatte ihn dauerhaft stigmatisiert. Die anderen Kinder hatten sich sofort auf ihn eingeschossen. Und eines Tages hatten sie ihm seine Hose gestohlen und ihn gezwungen in Unterhose nach Hause laufen.
Terry lehnte sich zurück und rieb hilflos seine brennenden Augen. Der Kopfschmerz klopfte jetzt unbeirrbar im Rhythmus seines Herzschlags direkt hinter seiner Stirn.
Inzwischen hatte er die Behinderung durch eine kleine Operation beseitigen lassen und kaum jemand wusste davon. Aber in seiner Seele hatte sie eine tiefe Narbe hinterlassen, die ihn ständig schmerzte. Terry ergab sich dem Horror-Film seiner Erinnerungen.
Die Szene des entscheidenden Nachmittags lief ein weiteres Mal ab. Er saß weinend in seinem Zimmer und hasste die ganze Welt. Seine Mutter hatte ihn nur verachtend angeschaut und das Haus wortlos verlassen, um eine Freundin zu besuchen. Nach vielen Stunden der tiefsten Einsamkeit war endlich die Lösung seiner Probleme aufgetaucht. Vermutlich hatte sie ihm damals das Leben gerettet. Es war so einfach. Anstatt sich selbst zu töten, würde er andere töten. Nach diesem rettenden Gedanken war er ganz ruhig geworden. Dann hatte er begonnen einen Plan auszuhecken. Der Hund seines schlimmsten Peinigers Adam Torino war sein erstes Opfer. Nachdem er ihn mit Rattengift getötet hatte, ging es ihm das erste Mal in seinem Leben gut. Natürlich wusste er, dass er nicht richtig gehandelt hatte, aber es war ihm egal. Auf Adams Hund folgten weitere Tiere seiner Peiniger. Er genoss den Schmerz seiner Gegner still. An einsamen Nachmittagen malte er sich genüsslich deren Verzweiflung aus. Niemals kam jemand hinter sein tödliches Geheimnis. Das erste Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl von Macht.
Terry wachte durch einen kleinen Ruck auf. Er musste eingeschlafen sein. Seine Kopfschmerzen waren verschwunden. Ein Stadtschild flog an ihm vorbei. Orte. Anscheinend hatte der Tsunami die kleine Stadt nicht getroffen.
„Wo sind wir?“, fragte er Andrew.
„Gleich auf der A1.“
Wenig später erreichten sie die Autobahn. Terry konnte die Auswirkungen der Welle sehen, wo sie die Autobahn getroffen hatte. Es herrschte ein unglaubliches Chaos. Der Bus kam nur langsam voran, da Andrew ständig umgestürzten Autos, Bäumen und anderem Müll ausweichen musste. Nach drei Stunden brach Jessica plötzlich das Schweigen. Sie hantierte mit einem Taschenspiegel.
„Meine Zunge ist wieder normal,“ sagte sie stolz. „Es scheint doch nicht so schlimm zu sein, wie befürchtet. Was meint ihr?“ Nacheinander streckten die anderen ihre Zungen heraus. Die gelbe Farbe hatte sich verflüchtigt. Nur bei Henry hatte sich nichts geändert. Er war der Einzige, der sich schlecht fühlte.
„Mir geht es nicht besonders gut,“ murmelte er abwesend. „Ist bestimmt mein hoher Blutdruck, der mir zu schaffen macht, bei diesem Stress.“ Melinda sah ihn seltsam besorgt an.
„Hast du deine Medikamente genommen?“
„Hoffentlich hat es nicht mit diesem komischen Regenschauer zu tun und mit dem gelben Zeug. Es schmeckt immer noch salzig. Schmeckt ihr auch noch etwas?“ Henry schaute erwartungsvoll in die Runde. Als niemand nickte, schloss er die Augen. Nach kurzer Zeit war er eingeschlafen. Terry schaute aus dem Fenster, aber er nahm nicht wahr, was er sah.
„Seid ihr auch so verdammt müde?“, fragte Andrew irgendwann. „Ich kann kaum noch die Augen offen halten. Kann mich mal jemand ablösen?“ Von den Reisenden war nur noch Terry wach, als er die Frage stellte.
„Fahr am besten auf einen Campingplatz,“ meinte Terry. „Bei Orvieto ist bestimmt einer. Wir brauchen alle Schlaf.“
Im nächsten Kapitel, geht es richtig los.
6 – Der gelbe Pilz
Als Manon in die Ebene blickte, lag Rom vor ihren Augen, beinahe so, als sei nichts geschehen. Doch sie wusste, dass die Menschen in dieser riesigen Stadt nicht mehr lebten. Der Ausbruch musste in wenigen Minuten bereits Millionen Tote gefordert haben. Ein Gedanke, den sie nicht akzeptieren wollte und der ihr körperliche Schmerzen verursachte.
Sie wandte ihre Augen zum Himmel. Die Sonne schien nicht so hell, wie in den Tagen zuvor. Trotzdem war es unerträglich heiß. In der Ferne breitete sich die Vulkanwolke langsam immer weiter aus. Zu der weißen Farbe der Wolke mischte sich die Schwärze der Asche, die der Vulkan in großen Massen ausstieß. Sie beobachtete wie die Wolke immer breiter wurde, je höher sie stieg und dem Himmel zunehmend eine gelblich-graue Farbe gab, die das Sonnenlicht fahl aussehen ließ. Glücklicherweise stand der Wind so, dass der Großteil der Aschewolke in Richtung Osten trieb.
Immerhin etwas, dachte sie. Der Dreck kommt erst einmal nicht zu uns. Manon setzte ihren Helm auf und startete die KTM. Nach einigen Kilometern erreichte sie das nächste Dorf. Dort traf sie das Entsetzen.
Zuerst nahm sie nur wenige Menschen wahr, die regungslos am Straßenrand lagen. Sie fuhr langsam ins Zentrum und hielt ihr Motorrad auf dem Dorfplatz an. Als sie abstieg, spürte sie in ihrem Bauch eine wachsende Unruhe. Was war hier passiert?
Der erste Mensch, den sie genauer betrachtete, löste einen Horrorfilm in ihr aus. Ein Mann lag zuckend auf der Rasenfläche des Platzes. Seine Augen quollen ihm fast aus den Höhlen und seine Hände ruderten ziellos herum. Etwas wuchs aus seinem Mund heraus. Gelb-Grau, glibberig, widerlich, wie ein Pilz. Und es schien sich zu bewegen. Manon musste sich zwingen, den ekelhaften Pilz genau anzuschauen. Es gab keinen Zweifel. Die Oberfläche des glibberigen Gewächses zitterte. Manon wurde übel. Sie schrak zurück und konnte dem Impuls, dem Sterbenden Mann zu helfen, nicht nachkommen. Gleichzeitig konnte sie ihren Blick nicht abwenden. Die Zuckungen des Mannes wurden weniger und hörten schließlich auf. Er war tot. Das schaumige, gelbe Zeug quoll immer noch aus seinem Mund heraus. Es wuchs und wuchs, obgleich der Mann tot war und verwandelte sich dabei langsam in eine graue, schleimige Masse, die eine Lache auf dem Boden um den Kopf des Mannes herum bildete. Manon gelang es ihren Würgereiz zu unterdrücken und wandte sich von dem Toten ab. Was sie danach sah, war nicht besser.
Hunderte waren es. Menschen mit gelben und grauen Pilzen in den Mündern. Sie lagen kreuz und quer auf dem Platz herum und waren tot oder lagen im Sterben. Teilweise wuchsen riesige gelbe Pilze aus den Mündern der Menschen heraus. Bei anderen hatten sie aufgehört zu wachsen, fielen wieder in sich zusammen und wurden grau.
Anscheinend hat sich dieses gelbe Zeug vermehrt und die Menschen sind daran erstickt, dachte sie. Manon musste sich die Hand in den Mund stecken um nicht laut loszuschreien und begriff gleichzeitig, dass sie unfassbares Glück gehabt hatte. Verzweifelt versuchte sie, ihre Atmung zu kontrollieren, um der erneut aufkommenden Übelkeit und dem Stress Herr zu werden.
Durchdrehen nützt nichts, versuchte sie sich zu beruhigen. Denk an das, was du tun musst. Bleib in der Realität. Das sind nur Tote, sonst nichts.
Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es sinnvoll wäre, die Toten genauer zu untersuchen. Vielleicht konnte sie etwas erfahren über dieses merkwürdige gelbe Zeug, was die Menschen in dem kleinen Dorf tötete, ihr aber nicht zu schaden schien. Bisher zumindest. Sie näherte sich dem ersten Toten, den sie entdeckt hatte. Der Pilz hatte inzwischen aufgehört zu wachsen und änderte seine Farbe.
Im gleichen Moment klickte es in ihrem Kopf. Gefahr ... ihr Sinn schaltete das Denken um. Überlegungen machten Wissen platz. Es war keine gute Idee gewesen, abzusteigen. Sie guckte sich rasch um. Die Gefahr lauerte im Dorf. Nur wenige Meter von ihr entfernt. Immer deutlicher konnte sie es spüren. Manon wusste plötzlich, dass die Gefahr mit den gelben Pilzen zu tun hatte. Und den Menschen. Entschlossen drehte sie sich um und bestieg ihre Enduro. Sie startete das Motorrad, gab Gas und verließ das Dorf, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Erst als sie einige Kilometer gefahren war, hielt sie an. Das Gefühl der Bedrohung war wieder verschwunden, und der Sinn der Ens hatte aufgehört zu arbeiten. Trotzdem hatte sie Angst. Besorgt öffnete sie das Visier ihres Helmes und streckte die Zunge heraus. Im Rückspiegel des Motorrades konnte sie sehen, dass die gelbe Farbe nicht zurückgekommen war. Zunge und Mund waren rosig. Erleichtert atmete sie tief ein und aus. Ein gutes Zeichen. Mit diesem Gedanken versuchte sie sich zu beruhigen, als sie ihre Fahrt fortsetzte.
Es ist nicht der Sinn der Ens, der mir Angst macht, erkannte sie auf einmal. Es ist die Angst der Homo Sapiens. Angst, die durch Überlegungen erzeugt wird, die keine Sicherheit bieten. Aber Angst ist keine Bedrohung. Eine kleine Euphorie trieb Manon unwillkürlich ein Lächeln ins Gesicht, als sie das erste Mal den Unterschied ihres rationalen Denkens und des intuitiven Sinns der Ens präzise erfasst hatte.
Wenige Kilometer vor Orvieto bemerkte sie, dass sie zunehmend müde wurde. Sie war irritiert, da es noch früher Nachmittag war. Andererseits hatte sie allen Grund, müde zu sein. Sie suchte sich einen kleinen Campingplatz und hielt ihr Motorrad dort an. Zum Glück war das alte Kletterzelt, das sie für Notfälle immer dabei hatte, an seinem Platz in der linken Satteltasche. Sie zog es heraus und baute es rasch auf. Als ihr schon fast die Augen zufielen, kletterte sie hinein und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
So entging ihr, wie sich der kleine Reisebus aus der Mailänder Autovermietung näherte und ebenfalls auf dem Campingplatz anhielt.
7 – Der Mord
Mitten in der Nacht wurde Manon wach. Sie fühlte sich merkwürdigerweise großartig. Angst und Unsicherheit waren verwunden und ihr Verstand hellwach. Was war mit ihr los? Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Als wäre da auf einmal eine zweite Person, die in ihr Platz genommen hatte.
Vielleicht so ein Ens-Ding, dachte sie beim Wachwerden. Aber es war anders. Noch bevor sie die Stimmen hörte, konnte Manon die Menschen riechen. Wie ein Trüffelschwein hatte sie instinktiv den Kopf gehoben und schnüffelte die Luft, die sie umgab, filterte die unterschiedlichen Düfte heraus und zog instinktiv ihre Schlüsse. Es waren Menschen auf dem Campingplatz angekommen. Vier Frauen und drei Männer. Sie hatten die Katastrophe offensichtlich überlebt. Ein Mann war anscheinend gerade gestorben. In wenigen Sekunden wusste sie das alles. Sie konnte die Informationen riechen.
Manon schüttelte überwältigt den Kopf. Das konnte gar nicht sein. Dieser Geruchssinn. Das war nichts, was die Ens auszeichnete. Jedenfalls wusste sie nichts davon. Da hörte sie die Stimmen. Vorsichtig guckte sie aus dem Zelt.
„Er ist gestorben,“ jammerte eine ältere Frau. „Mein Henry. Warum nur er? Warum niemand sonst? Nur er ist gestorben, mein Henry ...“ Ihr Gejammer schien niemanden der anderen zu interessieren. Manon erkannte drei Männer und vier Frauen, die in einem Kreis vor einem kleinen Reisebus standen. Sie starrten sich böse gegenseitig an. Der Duft, der von ihnen ausging, signalisierte Gefahr und Kampfbereitschaft. Aber woher wusste sie das? Die Frage verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war, da ihre Aufmerksamkeit vom Geschehen auf dem Platz gefesselt wurde.
„Halt die Schnauze,“ sagte einer der Männer. Er war groß und muskulös und schien der Anführer der Gruppe zu sein. Seinen rasierten Kopf hatte er herausfordernd in die Höhe gereckt. Breitbeinig stand er mit nacktem Oberkörper vor den anderen. „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe hervorragend geschlafen und fühle mich bestens. Und ich weiß jetzt auch, was wir machen werden. Ich sage es ...“ Ein anderer Mann unterbrach ihn schroff.
„Wie kommst du darauf, dass du hier der Anführer bist, Andrew? Du bist ein Muskelprotz ohne Hirn und außerdem ein Spinner.“ Im trüben Licht einer, wenige Meter neben der Gruppe stehenden Lampe erkannte Manon die Anspannung in den Gesichtern.
Wieder begann die ältere Frau zu jammern. Der Mann, den der andere Andrew genannt hatte, ging zu der Frau und schlug ihr emotionslos seine Faust ins Gesicht. Es war ein brutaler Schlag und die alte Frau fiel zu Boden. Ohne eine wesentliche Gefühlsregung zu spüren, beobachtete Manon das Geschehen. Auch den anderen schien das Schicksal der alten Frau egal zu sein. Niemand kümmerte sich um sie, als sie versuchte sich aufzurappeln.
Andrew hatte sich inzwischen seinem Gegner zugewandt. Er baute sich aggressiv vor ihm auf.
„Was willst du, Brian? Dich mit mir anlegen? Da wäre ich vorsichtig.“ Er näherte sich mit seinem Gesicht dem seines Widersachers. Aber Brian zog sich nicht zurück. Mit einem heftigen Kopfstoß begann er den Kampf. Es knackte, als Brians Stirn auf Andrews Nase traf und diese brach. Aus Andrews Nase schoss ein Strahl Blut. Er taumelte zurück. Brian folgte ihm. Mordlust war in seinen Augen zu sehen. Manon fühlte eine ihr unbekannte Begeisterung als sie die Menge des Blutes realisierte, das sich auf dem nackten Oberkörper Andrews verteilte und dessen Geruch in ihre Nase stieg. Sie konnte das Blut regelrecht schmecken, so intensiv war ihre Empfindung. Und es schmeckte gut. Inzwischen war sie aus ihrem Zelt herausgekommen und schaute in die Augen der anderen Umstehenden. Sie entdeckte die gleiche Begeisterung, die sie in sich selbst verspürte.
Wie beim Fight-Club, dachte sie an den alten Film mit Christopher Nolan und Brad Pitt. Nur, dass es hier echt war. Es war animalisch. Manon spürte, wie ein heißer Schauer über ihren Körper lief und sie erregte. In ihrer Eile hatte sie gar nicht gemerkt, dass sie splitternackt aus ihrem Zelt gekommen war und vergessen hatte, den Motorradanzug anzuziehen. Aber es machte ihr nichts aus in diesem Moment. Das Schauspiel des Kampfes der beiden Alphamännchen war zu faszinierend. Gerade hatten sich die beiden wieder aufeinander gestürzt und rangen miteinander.
Sie bemerkte eine Bewegung am Rande des Kampffeldes. Der dritte Mann der Gruppe hatte sich bewegt. Er blickte mit unbewegtem Gesicht zu ihr herüber. In diesem Augenblick wusste Manon, dass dieser Mann der eigentliche Alphawolf des Rudels war. In ihr veränderte sich etwas. Auf einmal gab es keinen Zweifel, dass sie sich später nach dem Kampf mit ihm paaren würde. Sie schnupperte. Der Duft, der von diesem Mann ausging, war anders. Und er war unmissverständlich. Sein Duft signalisierte eindeutig, dass er töten wollte. Und dass er sich damit auskannte.
Bei dem Kampf hatte Andrew inzwischen wieder die Oberhand gewonnen und war dabei, den unter ihm liegenden Brian zu erwürgen. Das Blut troff immer noch aus seiner gebrochenen Nase und tropfte auf das Gesicht des Unterlegenen. Brian wehrte sich verzweifelt und warf seinem Gegner eine Handvoll Sand in die Augen. Andrew ließ los und rieb sich fluchend die Augen. Brian gelang es, Andrew abzuschütteln und auf die Füße zu kommen. Er ballte seine Fäuste und umtanzte Andrew. Er war eindeutig der bessere Kämpfer. Immer wieder schlug er nach Andrew und traf ihn auf die bereits gebrochene Nase. Andrew brüllte. Das Blut spritze durch die Gegend und aus den Mündern der Zuschauer kam ein Stöhnen. Doch dann gelang es Andrew, so nahe an Brian heranzukommen, dass er ihn umfassen konnte. Seine überlegene Kraft siegte. Es dauert nicht lange und Brian lag erneut unter seinem eindeutig stärkeren Gegner.
„Alexandra, hilf mir“, rief Brian. Manon schaute sich um. Da gab es eine Frau, die sich anscheinend angesprochen fühlte. Groß und hübsch war sie. Aber sie schüttelte arrogant ihren blonden Lockenkopf.
„Streng dich an, du Schlappschwanz. Andrew fickt mich bestimmt auch gut, wenn du unterliegst. Also ich habe kein Problem.“ Mit glänzenden Augen beobachtete sie den Kampf, der sich langsam dem Ende zuzuneigen schien, denn Andrew hatte seine Hände wieder um die Kehle des unter ihm liegenden Brian gelegt und drückte sie langsam zu.
„Siehst du, du blöder Spinner, so gehts den Kleinen. Die Großen machen sie einfach platt. Sie töten sie und dann fi ...“
Ein schrecklicher Ton ertönte, als das Beil in Andrews kahlen Schädel fuhr und darin stecken blieb. Ungläubig blickte er Terry an. Seine weit auseinander stehenden Augen schielten an dem Beil vorbei, das seine Stirn gespalten hatte und an der Wurzel seiner Nase stecken geblieben war.
„Du bist einfach ein schwachsinniger Blödmann, Andrew. Aber das wusstest du bestimmt selbst schon lange.“ Terry riss das Beil aus Andrews gespaltenen Schädel und stieß ihn mit seinem Fuß vom Körper des gewürgten Brian, als sei er ein Sack. Das blutige Beil baumelte locker in seiner Hand. Etwas Gehirnmasse mit Blut vermischt tropfte herunter.
Terry stellte seinen Fuß auf Brians Kehle. Manon beobachtete interessiert, dass Terry anscheinend darüber nachdachte, Brian ebenfalls zu erschlagen. Aber ihn zu erwürgen, schien Terry noch mehr zu gefallen. Als Brian kaum noch atmen konnte, nahm Terry seinen Fuß zurück. Er drehte sich um und guckte herausfordernd in die Runde.
„Ist jetzt allen klar, wer hier der Chef ist? Brian, sag es!“ brüllte er laut und hob die Hand mit dem Beil.
„Du bist es, Terry, lass mich leben. Ich ergebe mich,“ stotterte der nach Luft japsende Brian. Terry blickte mit eisigem Blick in die Runde. Seine Augen blieben bei einer Frau hängen, die Manon sofort als seine Ehefrau identifizierte.
„Was soll das?“ keifte sie. „Spielst dich auf, dabei bist du ein nichts. Ohne dieses Beil hättest du nichts gerissen hier bei den beiden jungen Kerlen. Nichts.“ Terry ging langsam auf sie zu.
„Louise, kennst du nicht die Eingangsszene der „Odyssee im Weltraum“, die Szene mit den Affen?“ Seine leise Stimme klang eisig. „Ich weiß, dich haben andere Filme mehr interessiert, aber diese Schlüsselszene musst du kennen.“ Als sie ratlos den Kopf schüttelte, schaute er sie nachdenklich an.
In diesem Augenblick geschah es. Ohne Klicken, ohne Brummen. Manon hatte plötzlich Zugang zu den Gedanken Terrys. Und nicht nur zu seinen. Sie konnte von Person zu Person springen und hören, was sie dachten. Es erforderte ein wenig Übung, die Gedanken der einzelnen zu unterscheiden und zu sortieren, damit sie nicht in einem Gedankengeschnatter untergingen.
Terrys Gedanken erschreckten sie. Gerade dachte der Mann eiskalt darüber nach, ob er seiner Frau das blutige Beil, in den Schädel schlagen sollte. Seine Frau hatte keinerlei Ahnung, wie nahe sie gerade dem Tod war. Louises Gedanken drehten sich darum, dass ihr Mann sie mit Jessica betrügen würde und wie sie ihm dann die Hölle heiß machen wollte. Brian hatte nur Angst und fragte sich die ganze Zeit, wie er sich würde schützen können vor der Willkür und dem blutigen Beil seines Anführers. Die Gedankenwelt der alten Frau erschien Manon merkwürdig. Es kam ihr vor, als sei die Frau weit weg, wie in einer anderen Welt. Sie wirkte völlig entrückt. Ihre Gedanken hatten nichts mit der Situation zu tun, sondern mit ihrem Ehemann, um den sie heftig trauerte. Manon löste sich aus den Köpfen der anderen.
Es ist seltsam, dachte sie, jede Form eines Gewissens, der Nächstenliebe, jede Umgangsform und jede Regel der Menschlichkeit bleibt hier gerade auf der Strecke. Wie kann das sein? Sie bemerkte erstaunt, dass es ihr kaum anders ging. Neben einer Gefühlskälte fühlte sie nur das Bedürfnis, möglichst bald mit diesem eiskalten Mörder zu vögeln. Und da sie bereits in die Köpfe der anderen beiden Damen geblickt hatte, wusste sie, dass sie mit diesem Bedürfnis nicht alleine war.
Terry hatte sich gerade dazu entschieden, seine Frau nicht zu töten und sich von ihr abgewandt. Sein stechender Blick wanderte jetzt zu Alexandra und Jessica.
„Ausziehen!“ Die beiden Frauen schauten ihn irritiert an, standen aber bald nackt vor ihm. Jessica war die deutlich fülligere mit großen weichen Brüsten, einem einladenden Hintern und kurzen Beinen während Alexandra größer, schlanker und insgesamt attraktiver war als ihre deutlich ältere Konkurrentin. Beide blickten Terry lüstern an. Terry grunzte kurz und deutete auf den kleinen Reisebus.
„Brian und Louise, ihr bringt Andrew in den Bus. Legt ihn zu dem toten Henry. Morgen entsorgen wir die beiden Leichen im Chaos auf der Autobahn.“
Erst jetzt schien er Manon zu bemerken, die immer noch nackt vor ihrem Zelt stand. Er fixierte sie mit seinem Blick und kam langsam auf sie zu. Als er vor ihr stand und ihren Körper lüstern musterte, überlief Manon eine Gänsehaut.
Wie eine Sklavin ..., dachte sie.
„Schön siehst du aus. Wenig Weib. Dafür kräftig. Aber das ist egal, verstehst du? Du gehörst jetzt mir, klar? Nur das zählt. Du kommst dran, wenn ich mit den beiden fertig bin.“
Manon schaute auf den Boden und nickte. Die dunklen Gedanken, die sie hinter seinen sanften Worten entdeckte, machten ihr Angst und erregten sie gleichzeitig. Sie setzte sich auf den Boden und schaute Louise und Brian zu, wie sie den schweren Körper Andrews in den Bus schafften. Untermalt wurde die Szene vom Stöhnen der beiden Frauen im Zelt. Der Duft von Sex erreichte ihre Nase. Sofort zog sich ihr Unterleib zusammen.
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Kommentare
es liest sich so interessant, dass ich mich auf#s nächste Kapitel freue....
Super geschrieben, sehr spannend…schade, dass ich noch nicht weiterlesen kann..
Ich bin gespannt wie es weiter geht, hört sich gut an!
Super spannend! Ich freue mich auf die Fortsetzung und die Veröffentlichung!