
Prolog - August 2010
Thomas Prager traute seinen Augen nicht. Er hatte die Proben zum zweiten Mal durch den Analysator laufen lassen, und es erschien das gleiche unmögliche Ergebnis. Schon wieder dieser verdammte Fehler. Denn dass es ein Fehler war, daran gab es für ihn keinen Zweifel.
Prager erinnerte sich gut an den Tag, als es passiert war. Sie hatten gebohrt. Er war die Hitze in der Region um Neapel gewohnt, aber an diesem Tag war sie sogar für ihn beinahe unerträglich gewesen. Zusammen mit der Softwarespezialistin Eva Ragnhildsdottir aus Island, und dem Norweger Tore Magnusson war er unterwegs zum Camp. Tore leitete als Ingenieur der Forschungsgruppe die Bohrung. Diesmal wollten sie die Magmakammer des Supervulkans erreichen. Bereits seit drei Tagen lief das Bohrgestänge ununterbrochen. Nach zweistündiger Wanderung über schwieriges Gelände erreichten sie erschöpft und durstig das Camp. Thomas Kollege Bertram Gensheimer hatte die Bohrung überwacht und freute sich über seine Ablösung.
„Na, ist euch warm geworden?“, scherzte er. „Ich hätte verschiedene kalte Getränke im Angebot.“ Sie setzten sich in den kleinen Unterstand, der gleichzeitig Schlafmöglichkeit und Labor der Arbeitsgruppe war. Thomas holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und schaute sich um.
Das Team verfügte über das modernste Equipment, das man sich vorstellen konnte. Die mit Solarenergie aufladbaren Batterien, die Analysegeräte und die beiden Hochleistungscomputer hatten sie vor mehreren Tagen heraufgeschleppt und Eva hatte alles installiert. Das Bohrgestänge und der Motor, den sie den „Schlagbohrer“ nannten, war von einem Helikopter schon einige Tage vorher abgesetzt worden. Jetzt musste nur noch die Magmablase, die sie in etwa 2000 Metern Tiefe vermuteten, erreicht werden. Es konnte nicht mehr lange dauern.
1987 Meter zeigte das Display des einen Rechners. Während sie ihren Durst stillten und sich unterhielten, blickten alle gespannt auf die sich langsam ändernden Zahlen. 1988, 1989, 1990 ... da passierte es.
Die Musik der Bohrmaschine änderte schlagartig die Frequenz und den Rhythmus. Das dumpfe Gerumpel, welches das Gestänge im Gestein erzeugte, wenn es sich drehte, wich einem hohen singenden Ton.
„Sie dreht leer,“ rief Tore. „Schnell abschalten.“ Mit diesen Worten stürzte er zu dem Antriebsmotor und drückte auf den roten Notschalter. Sofort hörte das hohe Singen auf, die Bohrwelle verlangsamte ihre Drehungen und blieb schließlich stehen. Sie blickten sich erwartungsvoll an.
„Wir sind unten. Ich glaube, wir haben die Magmablase erreicht. Bin gespannt, ob wir eine direkte Messung hinkriegen, bevor die Lava den Kanal verschließt,“ meinte Bertram und begann zusammen mit Tore und Eva das Bohrgestänge rasch zurückzuziehen.
Es musste schnell gehen. Die Messsonde zur direkten Erforschung der Magmakammer sollte eingebracht werden, bevor die Lava das Bohrloch wieder verschloss. Bald hatten sie es geschafft und das Bohrgestänge war geborgen. Gerade wollte Thomas die speziell für dieses Unternehmen entwickelte Sonde in das Bohrloch einbringen, als ein merkwürdiges Geräusch aus der Tiefe kam. Thomas schoss der irrationale Gedanke an einen durch Manipulation erzeugten Vulkanausbruch durch den Kopf. Gleichzeitig wusste er, dass dies nicht sein konnte. Die Lava war dickflüssig wie ein Pudding und würde niemals durch ein Bohrloch aus beinahe 2000 Metern Tiefe aufsteigen können.
Die Urangst des Geologen, dachte er.
„Du hast bestimmt Öl gefunden. Wir werden reich,“ scherzte Eva mit Tore, der ratlos auf das Bohrloch starrte. Das Geräusch wurde lauter. Unwillkürlich traten alle mehrere Schritte zurück. Dann schoss plötzlich ein heißer Wasserstrahl in die Höhe. Er hatte eine gelbliche Farbe.
Schwefelwasser, dachte Thomas enttäuscht. Sie würden keine Lavamessung durchführen können. Er blickte in die Gesichter der anderen. Enttäuschung machte sich auf ihnen breit. Sie hatten eine Wasserblase angebohrt und die Magmakammer nicht erreicht.
„So ein Mist,“ machte Bertram als Erster seinem Ärger Luft. „Treffen eine winzige Wasserblase. Doofenglück. Dabei kann es nicht mehr weit gewesen sein.“
„Können wir weiterbohren?“ fragte Eva. Sie wollte anscheinend nicht aufgeben. Thomas guckte Tore fragend an, der skeptisch den Kopf schüttelte.
„Ich weiß es nicht. Das kommt darauf an, wie groß die Wasserblase ist. Und wie weit die Magmablase davon entfernt ist. Aber eins ist sicher. Im Augenblick können wir das Bohrgestänge nicht in dieses Bohrloch einbringen. Der Wasserdruck ist viel zu groß. Vielleicht können wir es in einigen Tagen noch einmal versuchen.“
Sie blickten resigniert auf die Wasserfontäne, die aus dem Loch im Boden spritzte. Das Wasser tropfte auf das Dach des Unterstandes und von dort auf den Boden. Dabei änderte es seine Farbe und wurde grau. Thomas griff nach einem kleinen Eimer und fing das heruntertropfende Wasser auf.
„Wenn wir schon sonst nichts tun können ...“ murmelte er resigniert. Dann befüllte er ein Untersuchungsröhrchen und schob die Probe in das Analysegerät. Wenig später erschienen die Daten auf dem Bildschirm eines der Computer.
Auf den ersten Blick alles normal, dachte er. Aber plötzlich stutzte er. Die letzte Zeile des Protokolls zog seinen Blick magisch an. Protein. Das untrügliche Zeichen für Leben. Er schüttelte den Kopf. Eine Verunreinigung. Wortlos deutete er auf das Ergebnis. Die anderen runzelten die Stirn.
„Da hat die Brühe wohl auf dem Zeltdach einige Raupen gekocht,“ meinte Eva lachend. „Gute Science-Fiction. Leben im Vulkan. Nicht schlecht. Immer gut geheizt.“ Thomas lachte und die Stimmung hob sich wieder. Er nahm weitere Proben, um sie später genauer zu analysieren. Diesmal direkt aus dem spritzenden Wasser.
Und jetzt saß er einen Tag nach dem Ereignis vor dem Bildschirm und traute seinen Augen nicht. Das gleiche Ergebnis. Proteine. Leben. Und das in einer Wasserblase nahe der Magmakammer der Phlegräischen Felder. Das konnte nicht sein. Anscheinend hatte er auch bei der zweiten Probe nicht aufgepasst. Wütend vernichtete er die Proben.
Drei Tage später besuchten sie wieder die Bohrstelle. Das Wasser schoss unverändert aus dem Bohrloch. Enttäuscht entschieden sie sich, einige hundert Meter entfernt eine neue Bohrung durchzuführen, und bauten ihr Labor ab. Die zweite Bohrung war erfolgreich. In 2035 Metern erreichten sie die Magmablase.
Die erste Bohrung geriet in Vergessenheit. Das Wasser spritzte genau 289 Tage aus dem Loch heraus, bevor es versiegte.
Der Schweiß lief in einem dünnen Rinnsal an ihrem nackten Körper hinunter, fand den Weg zwischen ihren Brüsten hindurch und blieb in ihrem Bauchnabel hängen. Dort bildete er einen kleinen See, bevor er seinen Weg fortsetzte, sich der Schwerkraft folgend auf den Weg nach unten machte und zwischen ihren Beinen verschwand. Manon merkte davon nichts. Es war unerträglich heiß, obwohl es Anfang September und mitten in der Nacht war. Die Folgen des Klimawandels, die im Jahr 2055 niemand mehr ignorierte.
Manon hatte Angst.
Ein Alptraum hatte sie geweckt. Jetzt zitterte sie am ganzen Körper und konnte sich nicht erklären, warum sie auf einmal eine solche Angst hatte. Ihr Blick war auf den mittleren Bildschirm ihres Arbeitsplatzes in der geologischen Messstation nahe Pozzuoli geheftet. Was sie da sah, hätte zu ihrer Beruhigung beitragen sollen, aber das tat es nicht. Die Kurven, welche die Messdaten vieler hundert Sonden in der Umgebung Neapels wiedergaben, waren unauffällig. Sie waren nicht flach, nein, nicht bei den Phlegräischen Feldern. In dieser Region waren die seismischen Kurven niemals flach, aber sie waren unverändert und somit nicht besorgniserregend. Manon atmete tief ein und aus. Dieser entsetzliche Alptraum, der sie geweckt hatte.
Sie fuhr sich mit der rechten Hand durch die kurzen, von der brennenden Sonne Italiens weißblond gebleichten Stoppelhaare. Einige Schweißtropfen trafen den Monitor. Erschrocken nahm sie ihr panisches Gesicht wahr, welches sich in dem Bildschirm spiegelte.
Ich war live dabei. Das war mehr, als nur ein Traum, dachte sie. Während sie weiter die unauffälligen Kurven ihres Monitors betrachtete und darauf wartete, dass die Angst verschwand, tropfte langsam eine Erkenntnis in ihr Bewusstsein.
Es war so weit. Ein tiefer Traum der Ens hatte sie geweckt und ihre genetische Ausstattung hatte begonnen zu arbeiten. Jahrelang hatte sie darauf gewartet und jetzt war es offenbar passiert.
Bald müsste es anfangen, zu brummen, wenn ich wirklich eine Ens bin, dachte sie. Manon kannte den Ablauf genau. Ihr Vater hatte es ihr und ihrem Bruder Leon oft genug erklärt, als sie beide noch klein waren. Ein Traum, der üblicherweise durch eine drohende Gefahr ausgelöst wurde, startete den so genannten Sinn ihrer Spezies, die sich von Homo Sapiens deutlich unterschied. Aber dazu gehörte das Brummen. Und noch immer war kein Brummen in ihrem Kopf. Und keine Klarheit. Vielleicht hatte sie ja Glück und einfach nur schlecht geträumt. Sie brauchte Sicherheit. Denn wenn der Sinn der Ens eingeschaltet wurde ... Manon wusste, was das bedeutete.
Manon stand auf und suchte hektisch nach ihrem Handy. Sie fand es in der Hosentasche ihrer Shorts.
4:41, dachte sie. Keine gute Zeit für ein Telefonat. Schnell tippte sie die Nummer ein und wartete. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich die Stimme meldete.
„Mama, sorry, dass ich dich jetzt wecke, aber …“ Manon schluckte und konnte plötzlich nicht weitersprechen.
„Was ist passiert?“ Die Stimme ihrer Mutter wirkte angespannt.
„Ich glaube, es ist so weit.“ Manons Kehle war ausgetrocknet und schmerzte beim Sprechen. „Ich hatte einen Traum, wie ich noch nie einen hatte, und jetzt habe ich eine panische Angst, die nicht weggeht. Meinst du … ich bin jetzt eine Ens? Äh ... ich meine ... es hat nicht gebrummt. Ich bin unsicher.“ Am anderen Ende der Verbindung blieb es eine Weile stumm.
„Ich weiß es nicht, Manon. Bei deiner genetischen Konstellation ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich der Sinn deiner Spezies meldet,“ antwortete Kerstin schließlich. „Dein Vater ist ein Ens. Eines deiner beiden Geschlechtschromosomen kommt von ihm und macht dich zu einer Ens.“ Kerstin zögerte einen kurzen Augenblick. „Einmal angenommen es ist ein tiefer Traum gewesen und die Konversion ist eingetreten ... Warum gerade jetzt?“
Manon erzählte ihrer Mutter von dem Traum, ihrer Angst und den Messdaten ihres Laptops. Als Kerstin antwortete, bemerkte Manon erneut die Anspannung in der Stimme ihrer Mutter.
„Wenn der Sinn der Ens eingeschaltet wird durch einen tiefen Traum, dann droht eine Gefahr. Das ist ja die Aufgabe des Sinns. Gefahren bemerken. Es könnte also sein, dass ... ein Ausbruch der Phlegräischen Felder unmittelbar bevorsteht, deine Daten dies aber nicht anzeigen. Bitte rufe sofort Carola an. Sie wird dir helfen.“
„Nein, bitte nicht Carola. Diese blöde Kuh …“ Kerstin unterbrach ihre Tochter energisch.
„Das ist sie nicht, Manon. Du solltest das wissen. Sie denkt anders als du und ich und das stört dich, weil du es nicht verstehst. Im Gegensatz zu dir, hat sie beide Geschlechtschromosomen der Ens. Deine Fähigkeiten sind begrenzt auf ein bisschen Telepathie und frühes Spüren von Gefahren. Aber Carola ist aufgrund der Konstellation ihrer Geschlechtschromosomen eine „starke Ens“. Ihr Sinn ist unendlich viel stärker als deiner. Sie weiß mehr, als du und ich jemals wissen werden, und sie kann Dinge sehen und fühlen, die wir nicht begreifen können. Carola wird dir helfen.“
„Sie hat damals in meinem Kopf rumgestöbert und rausgekriegt, dass ich sie nicht mag. Hast du das vergessen? Deswegen hat sie den Kontakt zu uns allen abgebrochen.“
„Das stimmt nicht, und du weißt, dass es andere Gründe gab. Nimm dich nicht so wichtig. Sie wird dir helfen. Ruf sie an! Jetzt!“ Kerstins Worte klangen bestimmt, beinahe wütend. Manon wollte noch etwas sagen, aber das Handy war plötzlich stumm. Was sollte sie nur tun? Die Angst in ihrem Bauch meldete sich erneut.
Carola anzurufen war eine Zumutung. Sie konnte ihre Tante nicht leiden. Diese dumme, ständig eingebildet wirkende Schwester ihres Vaters, war ein rotes Tuch für sie. Als Manon noch ein kleines Kind war, hatte Carola dauernd ihre Nähe oder die ihres älteren Bruders Leon gesucht. Weder ihr Vater noch ihre Mutter fanden ihre ständige Anwesenheit gut. Aber aus irgendwelchen Gründen hatten sie nichts gegen Carolas Übergriffe getan. Bis zu dem großen Streit. Da hatte Manon gehört, wie ihr Vater mit Carola laut gestritten hatte.
„Niemals, niemals wirst du noch einmal in den Kopf meiner Kinder eindringen. Das ist die Regel. Hast du das verstanden?“ Branko hatte damals gebrüllt, wie er es sonst nie tat. Carola hatte dagesessen und überheblich in die Luft gestarrt, so als ginge sie das alles nichts an.
Wenig später hatte Carola ihre Familie verlassen. Manon hatte danach keinen Kontakt mit ihr gehabt. Das war viele Jahre her, aber Manon erinnerte sich auf einmal genau an die Situation. Widerwillig nahm sie ihr Handy und suchte die Nummer ihrer Tante.
Hoffentlich ist sie nicht da, meldete sich ihre irrationale Ambivalenz ein letztes Mal, als sie auf den Wahlknopf drückte.
„Hallo Manon,“ meldete sich Carolas Stimme sofort. Hatte sie den Anruf erwartet?
„Äh … hallo Carola … ich habe ein Problem.“
„Wo bist du? Was ist passiert?“ Carola war ungewöhnlich kurz und präzise. Ganz anders als in Manons Erinnerung.
„Pozzuoli, oberhalb des Lago d‘ Averno. Ich bin in einer geologischen Messstation der Uni Neapel. Mein letzter Nachtdienst. Ich ...“
„Hast du geträumt? Hast du Ahnen kennengelernt in dem Traum?“
„Ja, ... ein Traum ... es war ...“, begann sie stockend zu berichten. „Es gab da eine Frau, die auf einem Berg saß, nein ... da waren viele Frauen. Die schwebten in seltsamen grünen Blasen durch die Nacht. Sie redeten miteinander und ich konnte zuhören. Es ging um einen explodierenden Berg. Alle hatten Angst.“ Sie schwieg einen Augenblick. Der Traum wurde vor ihrem inneren Auge wieder lebendig.
„Wie ging es weiter?“ Carolas Frage holte Manon in die Realität zurück.
„Irgendwann bemerkte Alva, so hieß die Frau auf dem Berg, meine Anwesenheit. Sie ... sie hat mich angesprochen.“ Die Traumbilder wurden intensiver. Manon hatte das Gefühl, in eine zweite Realität hineingezogen zu werden. „Sie hat gesagt ... dass sie eine Vorfahrin von mir ist und glücklich darüber, dass ich sie gefunden habe. Und dass sie weiß, dass ihr Stamm überleben wird, weil es mich gibt. Was hat sie damit gemeint?“ Eine Weile war es still zwischen Manon und ihrer Tante. Nur Atmung war zu hören.
„Es ist ein Ens-Traum,“ sagte Carola leise. „Das waren die Ahnen von deinem Vater, von Leon, von dir. Ich bin mir sicher. Aber was war die Gefahr? Was ist danach passiert?“
„Auf einmal bewegten sich diese grünen Blasen immer schneller und dann wurde es am Horizont plötzlich hell. Wie ein Blitz. Ich weiß nicht, ob die Frauen schrien oder ob ich geschrien habe. Jedenfalls kam ein brutaler Windstoß und fegte alle Blasen davon. Auch Alva wurde weggerissen. Ich habe sie nicht mehr gesehen. Als ich aufwachte, tat mir der Körper so weh, als sei ich einen Abhang hinunter gefallen. Ich habe am ganzen Körper ...“
„Verschwinde aus Italien, so schnell du kannst.“ Manons Hand mit dem Handy zuckte, so laut waren Carolas Worte in ihrem Kopf explodiert. Wie ein Hammer trafen sie Manons tiefste Befürchtung. Hinter ihren Augen begann sich ein Karussell zu drehen. Auf einmal hatte sie den Eindruck, als stehe sie in einer Nebelwolke direkt neben sich und beobachte, was da passierte.
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